Clare Graves Ebenen von Bewusstsein und Werten als Modell für die Entwicklung von Innovationskultur
Den Wandel verstehen: Mit dem Graves-Modell Unternehmenskultur greifbar machen
Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Graves’schen Modell können folgenden Fragen sein:
- Wie entwickeln sich Menschen, Teams, Organisationen?
- Warum „ticken“ wir in bestimmten Situationen so unterschiedlich?
- Warum ‚funktioniert‘ Unternehmenskultur oft nicht bzw. scheitert ein Change-Prozess?
- Wie passt eine Person in ein Unternehmen?
- Wie passt eine Abteilung oder ein Team in das Umfeld der Firma?
- Welche aktuellen und zukünftigen Herausforderungen werden an die Organisation gestellt und wie kann dies als Leitfaden organisatorisches Wachstum/Reife dienen?
Das Graves-Modell liefert spannende Antworten auf diese Fragen. Es beschreibt die Entwicklung von Individuen, Organisationen und Gesellschaften entlang von bislang acht bis neun sogenannten Werteebenen – jede mit ihrem eigenen Fokus, Bewusstsein und Verhaltensmuster.
Clare Graves Arbeiten kurz zusammengefasst1
Clare W. Graves (1914 – 1986) war ein amerikanischer Psychologieprofessor, der neben seiner Forschungstätigkeit viele Jahre als Berater in Wirtschaftsunternehmen, Kliniken und Bildungsinstituten tätig war. Seine Studierenden inspirierten ihn zu seinen Forschungen, indem sie wissen wollten, welcher der vielen Theoretiker (Maslow, Freud, Jung, Rogers, Watson etc.) recht habe.
Eine zentrale Erkenntnis von Clare Graves: Bewusstseinsentwicklung verläuft nicht linear, sondern sowohl kontinuierlich innerhalb eines Levels als auch sprunghaft beim Übergang zum nächsten. Diese Sprünge passieren meist nicht freiwillig – sie sind Reaktionen auf äußere Herausforderungen, die mit dem bisherigen Werte- und Verhaltenssystem nicht mehr bewältigt werden können. Und das geschieht sowohl auf der individuellen als auch kollektiven Ebene.
Graves formulierte dies folgendermaßen: „“Kurz zusammengefasst behaupte ich, dass die Psychologie reifer Menschen ein sich entfaltender, aus vorhergehenden Stadien hervorgehender, oszillierender, spiralförmiger Prozess ist, gekennzeichnet durch die Unterordnung älterer Verhaltenssysteme mit geringerem Rang, der zu neueren darüber liegenden höheren Systemen fortschreitet, wenn sich die existentiellen Probleme der Menschheit verändern.“
Diese Formulierung beinhaltet ein paar interessante Aspekte:
- Es ist ein sich-entfaltender (‚emergenter‘) Prozess
Neue existentielle Probleme werden durch die Entwicklung neuer Wertesysteme gelöst. Nach Graves gibt es hier keine finale Ebene, die Entwicklung nach ‚oben‘ ist offen. - Der Prozess ist spiralförmig
Gewisse Stadien werden auf höherer Bewusstseins- bzw. Werteebene wieder durchlaufen. Dies ist hier nicht weiter skizziert. - Wechselwirkung System – Umwelt
Diese Entwicklung ist ein Wechselspiel zwischen ‚System‘ (Individuum / Kollektiv) und der Umwelt. Daher wird oft von einer ‚Doppelhelix‘ gesprochen, welche beides abbildet. Passen die Werte des ‚Systems‘ zur Umwelt, spricht man von Passung. - Es ist eine Art Pendelbewegung – abwechselnd stehen das Individuumund die Gemeinschaft im Fokus
- Integration & vollständiges Durchlaufen der vorherigen Ebenen
Eine Ebene lässt sich dabei nicht einfach überspringen. Jedes Level baut auf den vorherigen auf und muss vollständig integriert sein, um langfristig wirksam in ein neues Bewusstsein hineinzuwachsen. Mit dem Modell kann leichter erkannt werden, wenn gewisse Ebenen ‚gefaked‘ werden. Gerne wird z.B. so getan, als könnte man von orange direkt zu gelb springen (z.B. im Berater-Business), oder von blau zu grün (z.B. gemeinschaftlich orientierte Menschen/Gruppen/Wohnformen, welchen es auf der ‚linken‘ Seite an Reifung fehlt)Wichtig hier: „Höher“ heißt nicht automatisch „besser“. Je nach Kontext können frühere Levels genauso hilfreich sein – entscheidend ist die Passung zur aktuellen Situation.
Beispiele:
- Der Führungsstil in einem patriarchal geführten Unternehmen ist im Graves‘schen Modell lila. Sofern das der richtige Rahmen für alle Mitarbeiter ist, liegt hier Passung vor.
- In einer kriegerischen Auseinandersetzung wäre das Vorherrschen von grün fatal.
- Ein aufstrebendes Startup hat idR viel orange/grün und anfänglich weniger blau.
- In einer Fab für die Herstellung von Halbleiterchips müssen alle Prozesse in sehr engen Grenzen zuverlässig durchgeführt werden, damit am Ende ein funktionierendes und zuverlässiges Bauteil. D.h. ein guter Anteil von blau ist hier essentiell.
Das folgende Diagramm skizziert diese Ebenen in vereinfachter Form
(nur Ebenen des Systems, keine Doppelhelix):
Nach Graves gibt es 6 allgemeine Gründe für einen Entwicklungssprung2:
- Potentialentfaltung
- Lösungen bestehender Probleme
- Gefühl der Dissonanz
- Gewinnung von Erkenntnissen
- Beseitigung von Barrieren
- Möglichkeit zur Konsolidierung
Ergänzend sei noch zu erwähnen, dass die Arbeiten von Clare Graves auch durch Chris Cowan und Don Beck unter dem Titel ‚Spiral Dynamics‘ bekannt wurden. Beide waren Schüler von Graves.3,4
Beispiele für Entwicklungen entlang der Werte-Ebenen
Auf der individuellen Ebene:
Einschneidende Änderungen im biopsychosozialen Umfeld (ein Begriff aus Graves Terminologie) wie Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung vom Partner oder auf der positiven Seite Geburt des eigenen Kindes. Eine Anpassung ist dann oft notwendig, nicht nur im Verhalten, sondern auch in der Art und Weise, wie man die Welt und die Umwelt wahrnimmt, Erfahrungen und Eindrücke interpretiert– welchen ‚Wert‘ man ihnen zuweist.
Analog gilt das auf kollektiver Ebene, für Gruppen, Organisationen und Gesellschaften. Disruptive Änderungen können hier zum Beispiel sein:
Organisationen/Firmen: generell Änderungen, die das bisherige Business Modell in Frage stellen oder bedrohen, z.B. das Auftauchen/Erstarken eines Konkurrenten, das Auftauchen einer neuen Technologie, welche das bisherige Produkt-Portfolio bedrohen, das Wegbrechen von Handelsbeziehungen (Kunden/Suppliern), die Übernahme eines Unternehmens bzw. wenn man übernommen wird, etc…
Gesellschaften: Entwicklung neuer Techniken/Technologien (wie z.B. das Rad, Telefon, Internet etc…) veränderen die Gesellschaft grundlegend in Bezug auf Arbeit, Nahrungserwerb, Kommunikation, Lernen etc; Kriege, Naturkatastrophen, Änderung der vorherrschenden und eventuell oktroyierten Religion (z.B. Einführung des Christentums als Staatsreligion). Naturwissenschaftliche Erkenntisse, welche Horizont erweiternd waren/sind und dann auch zu neuen Technologien führen.
Anwendung in der Praxis: Ein Kulturkompass für Unternehmen
Das Graves-Modell ist weit mehr als ein theoretisches Konstrukt. Es bietet einen konkreten Deutungs- und Handlungsrahmen für Unternehmenskultur. Mit seiner Hilfe lassen sich kulturelle Muster sichtbar machen, Herausforderungen besser einordnen und gezielte Entwicklungsmaßnahmen ableiten:
- Wo steht unsere Organisation aktuell in ihrer Entwicklung?
- Welcher „Wertecode“ prägt unser Denken und Handeln?
- Welche nächste Stufe ist sinnvoll – und was brauchen wir, um sie zu erreichen?
- Wertebasierte Führung: durch Verständnis der Werte einzelner Mitarbeiter können gezielter Entwicklungsimpulse gegeben werden
Das Modell hilft dabei, komplexe Veränderungsprozesse greifbar und gestaltbar zu machen – im Dialog, in der Führung, im Team und im täglichen Miteinander.
Im Überblick kann ein entsprechender Kulturentwicklungsprozess wie folgt gestaltet sein:
In 5) und 6) und weiteren Veröffentlichungen der Autoren findet man weiterführende Literatur dazu.
Ergänzende Aspekte
- Eine Kulturentwicklung ist weder einfach machbar noch erzwingbar ist. unter Umständen muss die veränderte äußere Anforderung länger bestehen, damit die Notwendigkeit der Entwicklung erkannt wird. Zudem gibt es im Kontext einer Firma Rahmenbedingungen, welche es schwer machen, um z.B. ‚einsichtsresistente‘ Mitarbeiter zur Entwicklung zu bewegen.
- Kulturentwicklung in einer Firma hat im Vergleich zu gesellschaftlichen Änderungen eine sehr kurzen Zeithorizont.
- Bei einem Change-Prozess muss man sich grundlegend fragen:1) Was ist gut und kann bleiben, 2) was muss geändert werden (z.B. Strukturen & Personen), 3) was muss akzeptiert werden, da eine Änderung zu weitreichende negative Konsequenzen in anderen Bereichen hätte?
- Bei einer Entwicklung von einer Ebene zur nächsten werden idR die Verhaltensweisen der neuen Ebene übernommen und nicht sofort die darunter liegenden Werte. Ob sich diese langfristig als Fundament einer neuen Weltsicht etablieren, hängt von der Veränderungsbereitschaft ab. Z.B. kann es für ein orange agierendes Team notwendig werden, statt nebeneinander erfolgsorientiert zu sein, stärker im Team zu kooperieren (grünes Level), um die komplexer werdenden Anforderungen der Kunden erfüllen zu können. Ein an grüne Werte angelehntes Verhaltensspektrum wird entwickelt, um orangene Ziele zu erfüllen. Grüne Werte werden zuerst quasi ‚gefaked‘ und brauchen Zeit, um sich zu entwickeln.
- Graves nutzte einen Buchstabencode zur Beschreibung der intrinsischen Ebenen sowie der Umweltebenen: A – H für die intrinsischen und N – U für die extrinsischen Werteebenen. Wie oben beschrieben liegt ‚Passung‘ vor, wenn intrinsisch und extrinsisch die gleiche Ebene vorliegt. Graves sprach daher von den Leveln A-N bis H-U. Bei allen anderen Kombinationen liegt keine Passung vor, was Konflikte wahrscheinlich macht.
Gleichzeitig kann das Ansatzpunkte für die Konfliktlösung transparent machen.7 - Es gibt noch weitere Modelle für die menschliche Entwicklung von anderen Forschern/Autoren. Interessanterweise haben sie z.T. einen großen Überlappungsbereich, unterscheiden sich aber auch in ein paar Punkten – exemplarisch: Graves hat den Fokus auf Werteebenen, Jane Loevinger auf die Entwicklung des ‚Ichs‘ (nicht als Ego sondern als interpretierende Instanz der Erfahrungen). Ken Wilber kombiniert in der Wilber-Combs Matrix die Ebenen (‚Stages‘) mit Bewusstseinszuständen (‚States‘).
Fazit
Das Graves-Modell liefert wertvolle Impulse für die Gestaltung von Transformationen – persönlich, im Team und in der Organisation. Wer sich mit den eigenen Bewusstseins- und Wertekonstrukten auseinandersetzt, kann Wandel nicht nur verstehen, sondern auch aktiv gestalten.
Ein herzliches Dankeschön an unser Mitglied ams Osram Group für die spannenden Einblicke – und insbesondere an Dr. Jürgen Moosburger für die anschauliche und fundierte Aufarbeitung des Graves-Modells.
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Referenzen:
- Krumm R., Parstorfer B. „Clare W. Graves: SEIN LEBEN, SEIN WERK: Die Theorie menschlicher Entwicklung“, werdewelt GmbH, 2014, ISBN 978-3-9815318-8-6
- Wikipedia: Graves’s emergent cyclical levels of existence
- Beck D.E., Cowan, Ch. C., “Spiral Dynamics – Leadership, Werte und Wandel”, Kamphausen Media GmbH, 2010, ISBN 978-3-89901-107-4
- Beck D.E. et al. “Spiral Dynamics in der Praxis, Der Mastercode der Menschheit“, Kamphausen Media GmbH, 2019, ISBN 978-3-95883-360-9
- Krumm R. „9 Levels of Value Systems: Ein Entwicklungsmodell für die Persönlichkeitsentfaltung und die Evolution von Organisationen und Kulturen“, werdewelt GmbH, 2017, ISBN 978-3-9818300-8-8
- Sagmeister S. „Business Culture Design”, Campus Verlag, 2024, ISBN 978-3-593-51551-9
- Mann D., Ford B. „Everythink”, IFR Press, 2020, ISBN 978-1-912670-12-3
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